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Buchcover HRO Rieth
Automatisierung auf Beschäftigte in HROs

Mit dem geborgten Untertitel von Bejamin Kunkel’s gleichnamigen Roman möchte ich direkt in die Rezension eines fantastischen Werks über „Auswirkungen zunehmender Automatisierung auf Beschäftigte in High Reliability Organizations“ von Michèle Rieth erschienen 2022 bei Pabst Science Publishers in Lengenrich/ Westfalen (Deutschland) einsteigen. Das Buch wurde zur Erlangung der Doktorwürde durch den Promotionssausschuß der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (Dr.rer.pol.) der Universität Bremen verfasst. Es stellt eine Zusammenfassung von insgesamt fünf wissenschaftlichen Studien zur „Analyse der veränderten Arbeitsrolle und Anforderungen unter Berücksichtigung der Arbeitsgestaltung am Beispiel des Berufsbildes der Fluglotsen und Fluglotsinnen“ dar.

Das Buch bietet auf 360 Seiten kompaktes Fachwissen über menschengerechte Automatisierung, deren Grundlagen, Leitprinzipien, Methoden, Modelle, sowie eine kritische Gesamtdiskussion der Arbeit, basierend auf einem lückenlosen Literaturverzeichnis. Das Buch ist vor allem für Designer/Gestalter von automatisierten Systemen, Hersteller von Prototypen und Endprodukten und Luftfahrtpersonal relevant, weil es die Vor- und Nachteile von Automatisierung gründlich anhand von Zitaten von Endnutzer:innen erläutert. Aufgrund der exzellenten Zusammenfassung der methodischen Grundlagen im Bereich Human Automation Interaction (HAI), Human-Autonom-Teaming (HAT), Joint Cognitive Systems, Job Crafting und nicht zuletzt dem angewandten Mixed-Method-Ansatzes empfehle ich dieses Buch aber vor allem Studierenden, Lehrenden, sowie Arbeits-, Organisations- und Luftfahrtpsyschologen, Human Factors Experten, Usability Engineers und Ergonomen. Für Luftfahrtinteressierte, die sich für angewandte Wissenschaft in der Praxis begeistern, ist dieses Buch eine wertvolle Ergänzung der Heimbibliothek. Warum ich das glaube, erfahren Sie in den folgenden Zeilen.

Ein Gast der Automatisierung

Mit dem ersten Motorflug der Gebrüder Wright im Dezember 1903 ging ein Menschheitstraum in Erfüllung. Viele Menschen, mich eingeschlossen, würden sagen, dass man sich nirgends freier als fliegend „über den Wolken“ fühlt. Am besten, wenn man selbst am Steuer (im Cockpit) sitzt. Fast befremdlich, ja sogar beängstigend, muss solchen Menschen also der Gedanke an automatisiertes Fliegen und automatisierte Flugsicherungssysteme vorkommen. Automatisierung in der Luftfahrt bedeutet, dass ein Flugzeug „sich selbst bewegt“ bzw. ein Flugsicherungssystem „in der Lage ist, Aufgaben bzw. Probleme gleichbleibender oder auch wechselnder Art eigenständig, ohne Zutun von Menschen, zu lösen.“ Die Definition von Automatisierung allein, gibt Anlass zur Sorge, dass der Mensch in der Luftfahrt bald ersetzt wird und man das beflügelnde Gefühl „über den Wolken“ zukünftig nur mehr in einer passiven Rolle, sozusagen als Gast der Automatisierung erleben kann.

Dr. Michèle Rieth setzt genau an dieser, einer meiner Meinung nach, für das Luftfahrtpersonal sehr realen Sorge, an, und untersucht die Auswirkungen zunehmender Automatisierung auf Fluglotsen und Fluglotsinnen im deutschsprachigen Raum. Ein Fluglotse, oder anders genannt Flugverkehrsleiter ist für die sichere und effiziente Abwicklung des Flugverkehrs verantwortlich, damit Passagiere und Flugbesatzung sicher und pünktlich von A nach B kommen. Das Berufsbild Fluglotse steht hierbei stellvertretend für Beschäftigte in High Reliability Organizations (HROs). HRO beschreibt eine komplexe Organisation, bei der es um viele Menschenleben geht. Eine Fluglinie, Flugsicherungsorganisation oder ein Flughafen zum Beispiel. Oder ein Krankenhaus, ein Rettungsdienst, ein Atomkraftwerk, ein Erdöl, Erdgas-, Chemie- oder Eisenbahnkonzern, oder ein Schifffahrtsunternehmen. Führungskräfte und Mitarbeiter in alle diesen Organisationen werden vor allem Kapitel 1 (Einleitung) und Kapitel 2 (HRO) sehr wertvoll finden. Auch Erfinder und Instandhalter hochkomplexer Technologien kommen auf ihre Kosten, wenn sie Kapitel 3 (Mensch und Automation) und Kapitel 4 (Gestaltung der Human-Automation Interaction) aus der Perspektive des Endnutzers lesen.

Kapitel 5 beschreibt den Forschungsbedarf und das methodische Vorgehen, das in mehreren Grafiken auch für Laien sehr anschaulich dargestellt ist. Kapitel 6 widmet sich dem Arbeitsfeld der Flugsicherung und dem aktuellen Stand des Automatisierungsgrades von Flugsicherungssystemen in der DACH Region (Deutschland, Österreich und der Schweiz). Beide Kapitel sind vor allem für Studierende der Luftfahrt interessant, sowie für Piloten und anderes Luftfahrtpersonal, das mit der Flugsicherung interagiert.

Die verbleibenden Kapitel 7-12 widmen sich jeweils einer Forschungsfrage, verbunden mit Vorgehen und Erkenntnissen aus Arbeitsplatzbeobachtungen, Interviews, Expert:innen Workshops, einer Experti:innen Befragung, einer Online Befragung und einem Online Experiment. Annahmen, Hypothesen, Forschungsfragen werden anhand von wissenschaftlichen Methoden überprüft und Erkenntnisse Kapitel für Kapitel mit Bezug zur aktuellen Forschung abgeleitet. Sehr oft sind solche Kapitel trocken und langatmig und es fällt einem schwer ein Kapitel in voller Länge zu erfassen. Der Autorin gelingt es aber durch entsprechend rhetorischer Mittel, einer sehr exakten und prägnanten Schreibweise, sowie gut übersichtlichen Tabellen und Grafiken den Leser bei Laune zu halten. Die Autorin beschreibt automatisierungsbedingte Veränderungen (Arbeitsweisen und -rollen) aus der subjektbezogenen Betroffenenperspektive. Vor- und Nachteile werden erfrischend ehrlich anhand von „ungeschwärzten“ Zitaten dargelegt. Positiv hervorheben möchte ich, dass die Arbeit und das Feedback der Fluglotsen zu jedem Zeitpunkt wertschätzend dargestellt wurde und das die freiwillige Teilnahme der Fluglotsen an den Studien wegweisend für die Wissenschaft und Praxis war.

Ein neues Standardwerk für Studenten und Verantwortliche in HROs

Meiner Erfahrung nach, darf allerdings nicht erwartet werden, dass man das Buch in 4 Wochen durchgelesen hat. Abhängig von dem Interesse, der verfügbaren Lesezeit und dem Vorwissen sollte man eher 6-8 Wochen einplanen. Die einzelnen Kapitel sind in sich logisch aufgebaut und schlüssig geschrieben, sodass sie ohne Weiteres nach Belieben und Interesse in der vorgesehen Reihenfolge oder durcheinander gelesen werden können. Ich persönlich habe mit Kapitel 1-4 (Einleitung – Gestaltung HAI) begonnen und habe mich dann gleich neugierig an Kapitel 13 gemacht, das eine kompakte Zusammenfassung der Ergebnisse und Beantwortung der Leitfragen der Arbeit, sowie eine Methodenreflexion bietet. Das Buch war mir ein treuer Begleiter auf den morgendlichen und abendlichen Zugfahrten zur und von der Arbeit, sowie in den Leerzeiten während Dienstreisen. Als Luftfahrtpsychologin und Human Factors Expertin, die seit mehr als 15 Jahren mit Luftfahrtpersonal arbeitet, konnte ich wahnsinnig viel Grundlagenwissen auffrischen und fühle mich nun definitiv auf dem neuesten Stand in Bezug auf die Auswirkungen zunehmender Automatisierung auf Beschäftigte in High Reliability Organizations. Ich freue mich auch schon darauf, die neuen Erkenntnisse in meine Unterlagen für die nächste Lehrveranstaltung zur Mensch-Maschine-Interaktion und Usability Engineering aufzunehmen und mit den Studierenden und Kollegen zu diskutieren.

Abschließend bleibt nur die Frage offen: Ist menschengerechte Automatisierung eine Utopie oder der Untergang? Existiert die Möglichkeit des vollständig autonomen Fliegens wirklich, oder nur in unserer Vorstellung und bedeutet ein hoher Automatisierungsgrad den Untergang der Tätigkeiten von Luftfahrtpersonal, wie wir sie heute kennen? Ich persönlich bin davon überzeugt, dass eine menschengerechte Automatisierung, den Menschen am Arbeitsplatz optimal unterstützen, ja sogar bereichern kann, solange die Erkenntnisse aus dem Buch von Michèle Rieth und den inkludierten Referenzen in ausreichender Form berücksichtigt werden.

Ich lade hiermit alle Leserinnen und Leser ein, das Buch oder Teile des Buches zu lesen, die Frage selbst für sich zu beantworten und dann mit Kolleginnen und Kolllegen oder Familie und Freunden zu diskutieren. Fest steht, dass Frau Dr. Michèle Rieth ein großartiges Werk gelungen ist, das wesentlich zum Stand der Forschung im Bereich menschengerechte Automatisierung beiträgt. Der einzige Wehmutstropfen ist, dass wertvolle Details über Erkenntnisse aus dem Buch trotz des englischen Abstracts für viele internationale Wissenschaftler und Interessenten aufgrund der deutschen Sprache nicht zugänglich sind.

Ich wünsche allen deutschsprachigen Leserinnen und Leser viele neue Einblicke, Erkenntnisse, Denkansätze und vor allem viel Spaß beim Lesen.


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